Ich habe mich mal in digitalen Terminen selbst beobachtet
(Rebellen-Net(t)iquette #2)

Ich habe mich mal dabei beobachtet, wie ich an digitalen Veranstaltungen teilnehme. Von denen gibt es ja gerade eine Menge.

Eigentlich freue ich mich über diese Möglichkeit immer dabei zu sein – ohne das Büro oder mein Homeoffice zu verlassen, kann ich an interessanten Terminen teilnehmen, Neues erfahren, an Entscheidungen mitwirken, mich zu Problemen bei der Lösung einer Aufgabe austauschen, oder auch einfach mal wieder Leute sehen – beruflich, und auch privat.

Als Erstes ist mir aufgefallen, dass ich viel lauter spreche als sonst. Und ich weiß nie wo ich hinschauen soll – auf der einen Seite möchte ich höflich sein, und dem Gegenüber / den Gegenübern in die Augen schauen – muss also die Kamera ansehen – auf der anderen Seite möchte ich Reaktionen bei meinen Gesprächspartnern sehen können, mitschmunzeln oder das präsentierte Material beschauen. Beides klappt einfach nicht.

Und ich versuche mich selbst im Blick zu haben – wie wirke ich gerade, sehe ich komisch aus, spinnt wieder das Hintergrundbild?

Auch habe ich bemerkt, dass ich oftmals nur mit einem Ohr zuhöre. Und nicht selten andere Dinge nebenbei mache. Immer öfter mache ich Kamera und Videoübertragung aus, und höre nur zu –“Bandbreite sparen“ denke ich dann.

 

Und all das, obwohl ich mich sehr bemühe unsere „rebellen-nettiquette“ zu befolgen.

 

Vor allem ist mir aber aufgefallen, dass ich nach einem Online-Meeting-Tag viel müder bin, als nach einem Bürotag mit Offline-Meetings – ich bin komplett platt, würde ich sogar sagen.

Was sind die Gründe dafür? Und geht das nur mir so, oder sind wir alle unaufmerksamer in digitalen Veranstaltungen? Und betrifft das nicht nur digitale Veranstaltungen, sondern auch andere digitale Termine?

 

Ein Blick ins Internet wirft sofort etliche „passende“ Phänomene aus: „Zoom-Fatigue“, „Hyper Gaze“, Virtuelle Müdigkeit, Online-Müdigkeit. Wenn es darum geht, was sonst so nervt, wird man auch schnell fündig. Ich bin also nicht allein (;o). Hier z.B. die Ergebnisse einer Umfrage aus dem Februar 2021(!), die mir immer noch sehr passend erscheinen:

 

  • Schlechte Internetverbindung 69%
  • Allgemeine Technik spinnt 50%
  • Gestiegene Anzahl an Meetings 46%
  • Meetings verzögern sich wegen Technikproblemen 41%
  • Falsche Verwendung der „Stumm/Laut“-Funktion 29%
  • Teilnehmer*innen haben Kamera ausgeschalten 26%
  • Sätze wie „Hört ihr mich?“, „Sorry, bin rausgeflogen“ 24%
  • Fehlendes Tool-Know-how der Beteiligten 22%
  • Teilnehmer*innen zu spät 21%
  • Sich selbst ständig sehen zu müssen 19%
  • Unpassende virtuelle Hintergründe 15%
  • Teilnehmer*innen chatten während der Konferenz und lenken dadurch vom Thema ab 12%
  • Teilnehmer*innen essen während des Meetings 11%
  • Referent zu spät 9%
  • Teilnehmer*innen springen auf, z.B. weil der Paketbote klingelt 7%
  • Haustiere, Partner*in oder Kinder, die durchs Bild springen 6%
  • Bei der ’Bildschirm teilen’-Funktion wird aus Versehen der Blick auf peinliche oder ungewünschte Inhalte ermöglicht 5%
[Quelle: Online-Befragung im Februar 2021 von news aktuell und Faktenkontor, 353 Kommunikationsprofis aus Unternehmen, Organisationen und PR-Agenturen; Mehrfachnennungen waren möglich]

 

Ich würde noch hinzufügen:

 

  • „Wer spricht denn da?“ In größerer Runde fällt es mir schwer sofort zu erkennen wer gerade etwas eingeworfen hat.
  • Schlechte Ton-Qualität und Übertragungslücken.
  • Zu viele Meetings am Tag und kurz hintereinander.

 

Gemeinsam fallen uns bestimmt noch weitere ein – schreibt gerne eure Top-Nerv-Themen in den Kommentarbereich zu diesem Blog.

 

Online-Meetings stressen also – zum Teil aus denselben Gründen wie persönliche Treffen, zum Teil aber auch aus anderen Gründen. Was steckt dahinter?

 

Zoom-Fatigue

Jeremy Bailenson, Professor am Virtual Human Interaction Lab der Stanford University (USA), hat mit seinem Team die Ursachen von Zoom Fatigue, untersucht und dabei 4 Hauptfaktoren identifiziert. Die Ergebnisse und Erläuterungen helfen sehr schnell, mein Verhalten und meine Müdigkeit zu verstehen.

 

  • Übermäßiger Augenkontakt aus nächster Nähe
  • Höhere kognitive Anforderungen und Belastung
  • Ganztages-Spiegel
  • Reduzierte Bewegung(sfreiheit)

 

„Eye Gaze at a Close Distance“

Die Teilnahme an Online-Meetings widersprechen in Teilen natürlichem menschlichen Verhalten in Gruppen. Der ständige gefühlte Augenkontakt und die Möglichkeit sich selbst zu betrachten und zu kontrollieren löst Stress aus. Das kennen wir in Alltagssituationen aus dem Fahrstuhl. In unseren Meetings aber können, oder wollen, wir nicht wegschauen. Wir denken, dass das Gegenüber sonst das Gefühl hat respektlos behandelt zu werden, obwohl wir in offline-Treffen uns auch nicht immer „an den Augen hängen“. Zudem schauen mich anscheinend x Menschen permanent an. Niemand schaut mal aus dem Fenster – alle fühlen sich durchgängig beobachtet. Außerdem steht der Monitor meist deutlich näher an uns, als wir es bei einem Treffen im echten Leben noch als angenehm empfinden würden. Alle am Meeting teilnehmenden befinden sich in einem Abstand zu uns, der sonst nur engsten Freunden vorbehalten wäre. Das stresst.

 

„Cognitive Load“

In den Video-Schalten sehen und hören wir uns zwar, aber dennoch fehlen meist etliche Aspekte der nonverbalen Kommunikation: etwa wird nur der Kopf, oder der Oberkörper einer Person gezeigt, vielleicht ist das Bild auch unscharf, oder die Perspektive seltsam. Gleichzeitig haben wir das Gefühl alle Mimik und Gestik besonders ausgeprägt zu machen: Heftiges Nicken, in die Kamera gehaltene Daumen, übertriebene Gestik – wir tun alles, um fehlende Reize auszugleichen. „Even the way we vocalize on video takes effort. Croes et al. (2019) compared face-to-face interaction to videoconferences and demonstrated people speak 15% louder when interacting on video. Consider the effects of raising one’s voice substantially for an entire workday.“

 

„An All Day Mirror“

Wir haben plötzlich die Möglichkeit uns den gesamten Tag, oder zumindest über sehr lange Zeit, selbst zu sehen. Zahlreiche Untersuchungen belegen, dass wir anscheinend gar nicht anders können: ist ein Spiegel da, schauen wir hin – und überprüfen uns. Bailenson weist darauf hin, dass sich solche Untersuchungen nur auf Selbstschau-Zeiten von höchstens einer Stunde beziehen – nichts im Vergleich zu einem vollen Online-Meeting-Tag.

 

„Reduced Mobility“

Während Offline-Meetings bewegen wir uns, egal ob wir in einem Zweiergespräch sind, oder in einer Gruppe sitzen. Wir bewegen den Kopf, die Augen, setzen uns zurück, oder wir holen uns etwas zu trinken. Wir nutzen eine Tafel zum Schreiben, schieben Dinge auf dem Tisch hin- und her, gehen zu einer Gruppenarbeit – kurz – wir sind viel in Bewegung. Selbst wenn wir telefonieren, bewegen wir uns mehr. Wir laufen hin- und her, holen uns Getränke, oder strecken uns ausgiebig. Das ist in Online-Meetings eher nicht so. Wir schauen recht starr nach vorne, selbst wenn es da gerade nichts zu sehen gibt – weil ich mich angeschaut fühle. Und der Bewegungsradius ist durch die Reichweite der Kamera stark eingeschränkt. Wir wissen, dass Offline-Meetings mit hohem Bewegungsanteil bessere Ergebnisse liefern, also solche ohne. Damit ist es leicht vorstellbar, was die Regungslosigkeit über Stunden mit uns macht und warum wir uns ausgelaugt fühlen.

 

So. Gefahr erkannt – Gefahr gebannt?

 

Ansätze um Online-Meetings besser zu gestalten, zeige ich in einem zukünftigen Artikel über die „rebellen-nettiquette II“.

 

Euer Oliver


Jeremy Bailenson et al | Ursachen von Zoom Fatigue

Manyu Jiang | The reason Zoom calls drain your energy

Barbara Maas, heise.de | Videokonferenzen: Mit Tools und Tricks Präsentationen lebendig gestalten

Betriebsarzt erklärt | Stressfaktor Videokonferenzen: Ermüdungssyndrom „Zoom Fatigue“

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